Explosiv − Abbotsford ist etwa 45 Meilen von Vancouver entfernt. Im Stossverkehr braucht man dafür Zeit und Geduld. Die Strecke ist nicht von ungefähr als der längste Parkplatz Canada’s bekannt. Wir sind zum Glück noch vor der Rushhour und der Verkehr ist einigermassen flüssig. Erst in Abbotsford selbst geraten wir ins Stocken. Wir wollen Rose und Ray besuchen, die wir auf der Fähre von Nanaimo nach Vancouver kennengelernt haben. Sie haben uns zwar ihre Adresse aufgeschrieben, jedoch keinen Hinweis auf die Exitnummer (Ausfahrt) gegeben. Wir sind dementsprechend überrascht und ratlos, als auf einer Tafel entlang der Autobahn angeschrieben steht: «Abbotsford next 7 exits». Sieben Ausfahrten?! So gross hätten wir den Ort nicht erwartet. Wir halten bei einer Tankstelle, wo Markus versucht, sich die Karte aus einem Telefonbuch einzuprägen. Wir erwischen so zwar die richtige Ausfahrt, biegen danach jedoch in die falsche Richtung ab. Weit kommen wir allerdings sowieso nicht. Mitten auf der Strasse stehen drei Polizeiautos mit Blaulicht. Wir werden umgeleitet und kommen wieder auf die Strasse zurück, von der wir zuvor abgebogen sind. Hier herrscht totales Chaos und wir sitzen über eine Stunde im Stau fest. Polizisten versuchen erfolglos den Verkehr zu regeln. Vor einem Spital nutzen dessen Angstellte die ungeteilte Aufmerksamkeit der festsitzenden Autofahrer und demonstrieren gegen den Abbau von Arbeitsplätzen. Wir halten bei einem Motel, um nochmals einen Blick auf eine Strassenkarte zu werfen. Hier erhalten wir auch die Erklärung für das Chaos. Ein Lastwagen mit einer Ladung Kerosin und Diesel ist umgekippt. Die Öle liefen in das Kanalisationssystem und die Behörden fürchten nun, dass es zu einer Explosion kommen könnte. Ein Teil der Bevölkerung wurde vorsichtshalber evakuirt. Es wird abgeraten momentan zu duschen oder Hahnenwasser zu trinken, da das Wasser verschmutzt sein könnte. Der Motelbesitzer rät uns, die Stadt am Besten gleich wieder zu verlassen. Wir halten uns nicht an seinen Rat. Beim zweiten Versuch biegen wir an der richtigen Kreuzung ab und gelangen doch noch zu Ray und Rose.
Alt und kein bisschen müde − Die beiden sind nicht zu Hause. Der Nachbar von vis-à-vis lädt uns statt dessen in sein Haus ein. Bei einem warmen Tee erfahren wir, dass er und seine Frau Kim von Rose und Ray bereits bestens über uns informiert wurden. Als die beiden schliesslich auftauchen, freuen sie sich riesig über unseren Besuch. Wir folgen Rose und Ray in ihr Haus, wo wir bei einer ersten Plauderrunde einen kleinen Snack verzehren. Wir merken schnell, dass der Tagesrythmus der beiden etwas aussergewöhnlich ist. Am Morgen wird ausgeschlafen. Das Frühstück wird um etwa zehn Uhr eingenommen. Danach wird der Tag geplant. Am Nachmittag geht’s auf einen Ausflug in die nähere Umgebung, jedoch nicht bevor man sich zu Hause nochmals mit einem Imbiss gestärkt hat. Ziel der Ausflüge ist meist ein Restaurant, wo um etwa sechs Uhr das Mittagessen (!) eingenommen wird. Das Nachtessen gibt’s dann wieder zu Hause zwischen 10 Uhr und Mitternacht. Nachtruhe ist regelmässig erst nach 1 oder gar 2 Uhr! Das Ganze wirkt noch viel unglaublicher, wenn man weiss, dass Ray 81 und Rose 79 Jahre alt ist. Beide sind schlank, fit und immer noch sehr abenteuerlustig. Bis vor zwei Jahren haben sie auf Reisen noch immer in ihrem Combi oder auf der Ladefläche eines PickUp’s geschlafen! Inzwischen geben sie zu, ein Hotelbett zu bevorzugen.
Chapeau − Wir verbringen eine interessante Woche mit den beiden. Sie wollen viel über das Leben in der Schweiz und unsere Reise wissen. Im Gegenzug erzählen sie uns über Canada (speziell über die Umgebung von Vancouver) und ihre eigenen Reiseerfahrungen. Rose und Ray sind vor vierzig Jahren auf eine einjährige Weltreise gegangen. Per Frachtschiff und öffentlichen Verkehrsmitteln haben sie Europa und Asien erkundet. Heutzutage per LandRover durch Nordamerika ist eine Sache... vor vierzig Jahren mit den öffentlichen Verkehrsmitteln durch China eine andere... Wir sind beeindruckt!
Ging ihnen während der Reise das Geld aus, haben sie auf der Strasse ein paar Bilder verkauft, die Ray gemalt hat. In ihrem Haus können wir einige dieser Kunstwerke bewundern. In einem Ordner zeigtuns Ray zudem Fotos von Bildern, die er verkauft hat. Unabhängig voneinander küren wir beide ein Gemälde aus der Chinatown zum schönsten Bild.
Volles Programm − Auf unseren täglichen Ausflügen lernen wir die Umgebung von Abbotsford kennen (natürlich inklusive Gourmetszene). Auf dem Programm stehen unter anderem eine Weindegustation in Fort Langley mit anschliessendem Pubbesuch; ein Ausflug nach Chilliwack mit Besuch einer Töpferei und dem von einem Indianer geführten Restaurant Planet Earth; ein kurzer Spaziergang im Centenniel Park in Abbotsford; eine Shoppingtour in Langley währenddessen Rose und Ray dort an einer Geburtstagsparty teilnehmen; Fahrt zu einer Klosterschule in Mission, die jedoch für Besucher geschlossen ist; das Stöbern in diversen Second Hand Läden, wo wir uns mit Kleidern, Büchern und einem Plüscheisbär eindecken; eine Fahrt entlang der kanadisch-amerikanischen Grenze nach White Rock, wo sich, wie der Name bereits verrät, am Strand ein grosser, weiss gestrichener Stein befindet.
Hello, hello... good morning, good evening − Uns fällt auf, dass es in Abbotsford sehr viele Einwanderer aus Indien hat. Die Inder bauen sich riesige Villen, in denen sie ihren ganzen Familienclan unterbringen können. Im Supermarkt beobachten wir eine Inderin, die 8 Gallonen (etwa 30 Liter) Milch einkauft! Wir fragen uns, ob sie für ihre Grossfamilie soviel Milch braucht oder ob sie eventuell einen kleinen Quartierladen besitzt, wo sie die Milch etwas teurer wiederverkauft. Rose und Ray erzählen uns, dass die meisten Inder in der Landwirtschaft (eigene Farmen mit Heidel- und Himbeeranbau), in der Holzwirtschaft und als Lastwagenchauffeure tätig sind.
Grosseltern in Canada − Dreimal bekochen wir abendsRay und Rose. Auf dem Menueplan stehen Älplermaccaroni, mexikanische Tortillas und Pepperonifleisch. Das letztere servieren wir den beiden nachdem sie von einem Dinner nach Hause kommen. Wir dachten, dass das Nachtessen, zu welchem sie eingeladen waren, für Ray und Rose erst das Mittagessen war. Tatsächlich setzten sie sich nach ihrer späten Rückkehr nochmals an den gedeckten Tisch und schlagen zu. Am nächsten Tag erzählen sie ihren Freunden am Telefon voller Begeisterung, mit welcher Überraschung wir sie am Vorabend empfangen hätten.
Wir gewinnen Ray und Rose in dieser Woche richtig lieb. Sie erstaunen uns immer wieder mit ihrer geistigen und körperlichen Fitness. Rose demonstriert uns zackig ihre Lieblingsposition, wenn sie am Boden hockt. Ohne zu zögern geht sie in die Knie und steht ebenso schnell wieder auf. Und für’s Foto mit unserem Auto klettert sie kurzerhand auf die Motorhaube. Die beiden haben viel Humor und bringen uns oft zum lachen. Die beiden nehmen sich gegenseitig gerne hoch, worauf Rose Ray schliesslich «You silly old man» nennt und er meint «That’s the way it goes. You can’t win them all.». Rose und Ray sind ein wirklich herziges und liebenswertes Paar. Innerhalb einer Woche werden sie für uns zu Ersatzgrosseltern und auch wir fühlen uns gegenüber ihnen wie Grosskinder, denn als erst kürzlich kennegelernte Besucher.
Grenzbereich − Am Mittwoch, 5. Oktober 2005 räumen wir unser im japanischen Stil dekoriertes (Rose und Ray haben mehrmals das Land der aufgehenden Sonne besucht und auch immer wieder japanische Studenten bei sich aufgenommen) Zimmer im Untergeschoss des Hauses und sagen auf Wiedersehen. Zuvor nimmt Markus Ray und Rose aber noch auf eine Spritztour im LandRover mit, welche sie sichtlich geniessen. Abenteuerlustig wie eh und je geben uns Ray und Rose ein Versprechen: «Wir wissen noch nicht wann, aber wir kommen euch in der Schweiz besuchen!»
In ihrem Combi lotsen sie uns zur Strasse, die zum Grenzübertritt Aldergrove/Lynden führt. Es ist diesselbe Strasse, die wir auf dem Weg nach White Rock gefahren sind und die genau entlang der Grenze führt. Rose und Ray haben uns erzählt, dass die Strecke mit Videokameras überwacht ist. So ist es für die Bewohner auf der kanadischen Seite nicht erlaubt ihre amerikanischen Nachbarn auf der anderen Strassenseite zu Fuss zu besuchen (und natürlich auch umgekehrt). Alle müssen sie zum Grenzposten fahren und dort die Grenze offiziel überqueren. Trotz diesen strengen Überwachungsmassnahmen wurden während ein paar Jahren Drogen durch einen unterirdischen Gang geschmugelt, der zwei nur wenige Meter vom Grenzposten entfernte Häuser verband.
Ein Dollar pro Monat − An der Grenze versuchen wir die kanadische Sales Tax von einigen grösseren Einkäufen zurückerstattet zu bekommen. Leider sind die meisten Quittungen aber schon zu alt (älter als zwei Monate) und berechtigen deshalb nicht mehr für die Rückerstattung.
Der Grenzübertritt in die USA geht dafür ohne Probleme über die Bühne, sobald wir versichern, dass wir die anfallenden Gebühren von $ 6 bezahlen werden. Wir erhalten nochmals eine sechsmonatige Aufenthaltsgenehmigung für die USA. Und Nanuq lassen wir in Canada offiziell wieder ausführen. Canaska liegt jetzt definitiv hinter uns. Zum Glück bleibt uns nicht viel Zeit, um darüber traurig zu sein. In Seattle treffen wir Skip, den wir in Anchorage kennengelernt haben. Mit ihm wird es uns sicher nicht langweilig...
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