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Mit dem Kanu auf dem Nisutlin River

Selbst ist der Koch − Nach dem Mittag fahren wir Richtung Teslin. Unterwegs entdeckt Markus eine Schwarzbärin mit zwei Jungen. Für einmal verziehen sich die Tiere nicht sofort im Unterholz und so bleibt uns genügend Zeit, die putzigen Kleinen und ihre Mutter zu beobachten und zu fotografieren.

Im Reiseführer haben wir gelesen, dass es etwas nördlich von Teslin bei Mukluk Annie’s einen kostenlosen Campground gibt und man dort ausgezeichneten Lachs essen kann. Mit knurrenden Mägen treffen wir um 20 Uhr im Restaurant ein. Leider hat der Koch heute eine Stunde früher als gewohnt Feierabend gemacht. Wir sind also gezwungen selbst für unser leibliches Wohl zu sorgen. Im Wald neben dem Campground finden wir genügend Brennholz für ein kleines Feuer. Darüber bräteln wir eine Wurst und geniessen dies mindestens so sehr, wie ein Nachtessen im Restaurant.

 

Die Vorbereitung − In einem Reisemagazin haben wir bereits zu Hause von einem Kanutrip auf dem Nisutlin River gelesen. Die Beschreibung des ruhigen, für Anfänger geeigneten Fluss mit reelen Chancen Wildlife (Vögel, Elche, etc.) zu begegnen, machten uns «gluschtig». Wir haben darum in unserer sonst eher dürftigen Reiseplanung sofort ein paar Tage für diesen Trip reserviert.

Am Donnerstag Morgen suchen wir Doug Martens in Teslin auf. Er wurde uns gestern vom Tankstellen- und Motellbesitzer des Ortes für Kanutouren empfohlen. Somit entscheiden wir uns gegen den Rat des Visitor Centers in Watson Lake. Dort hat man uns nämlich nahe gelegt, bis nach Whitehorse zu fahren, um uns dort einen Kanutrip-Veranstalter zu suchen. Wir finden aber, dass es mehr Sinn macht, sich in Teslin direkt beraten zu lassen.

Doug’s Frau Birgit empfängt uns und gibt uns erste Informationen. Sie stammt ursprünglich aus Deutschland und lebt mit ihrem Mann und den vier Kindern Joshua 15, Mattias 12, Kit 8 und Aiyana 6 seit sieben Jahren in Teslin. Doug hat im Moment ziemlich viel um die Ohren. Die Familie baut sich ein neues, grösseres Blockhaus und die Saison der geführten Fischtouren auf dem Teslin Lake hat soeben begonnen. Doug ist aber bereit uns morgen Abend an den Fluss zu fahren. Wow, unser Abenteuer kann also beginnen! Nach der ersten Begeisterung, müssen wir feststellen, dass noch einiges an Vorbereitung auf uns wartet. Wir haben noch nie einen solchen Wildnis-Trip unternommen uns sind entsprechend ratlos, was wir alles mitnehmen müssen. Da sind wir für die Tipps und Erfahrung von Doug und Birgit sehr dankbar. Sie bieten uns sogar ein paar Ausrüstungsgegenstände zum Mitnehmen an. So wird unser Gepäck um einen grossen Drybag (wasserdichter Sack), einen Foodcontainer (bärensicherer Behälter für die Nahrungsmittel), eine Axt und eine Plache ergänzt. Schwierig ist auch die Wahl der Lebensmittel. Sie müssen schnell gekocht, nahrhaft und nicht zu schwer oder platzraubend sein. In der Teslin Trading Post auf der anderen Strassenseite decken wir uns schliesslich mit Nüssen, Riegeln, Fertigteigwaren und Milchpulver ein. Obwohl wir nun gut für den Kanutrip gerüstet sein sollten, kommt nebst der Vorfreude langsam auch eine gewisse Unsicherheit auf. Da hilft es wenig, dass Doug wegen des aussergewöhnlich hohen Wasserstandes Bedenken äussert. Der Fluss wird eine relativ starke Strömung aufweisen und es könnte schwierig sein, einen geeigneten Übernachtungsplatz zu finden. Die schönen Sandbänke, die sich normalse in und entlang des Flusses befinden, werden momentan wohl alle unter Wasser sein.

Zumindest für heute müssen wir uns wegen der Übernachtung keine Sorgen machen. Wir werden von der Familie eingeladen, in der kleinen Cabin (Mini-Blockhaus) neben ihrem Haus zu schlafen.

 

Geschäftsmann − Am nächsten Tag packen wir unsere Sachen und bereiten uns für den Trip vor. Am Nachmittag nimmt uns Birgit mit in die Bibliothek, wo sie Teilzeit arbeitet, damit wir unsere E-mails abchecken können. Dank dem, dass Birgit auch ein Vorstandsmitglied des George Johnston Museum ist, erhalten wir dort ebenfalls Zutritt, obwohl das Museum offiziell erst nächste Woche geöffnet wird. 

George Johnston gehörte dem Stamm der Tlingit an, die hier ansässig sind. Er war ein Trapper (Fallensteller) und verdiente damit genug Geld, um sich eine Fotokamera zu kaufen. Mit dieser dokumentierte er das Leben seiner Mitmenschen Anfang des 20. Jahrhunderts. George Johnston war auch sonst sehr aufgeschlossen gegenüber neuer Technik. So kaufte er sich 1928 ein Auto und liess es nach Teslin bringen, obwohl es dort zu dieser Zeit noch keine Strassen gab. Das holte man nun extra nach und baute eine 4 km lange Strasse, die 13 Jahre später Teil des Alaska Highways wurde. War der Radius im Sommer für Johnston und sein Chevrolet eingeschränkt, standen ihnen im Winter auf dem zugefrorenen See und Flüssen über 100 km Piste zur Verfügung. Der schlaue Tlingit malte das Auto jeweils saisongerecht an, um es für die Jagd einsetzen zu können. So war es im Sommer schwarz und im Winter weiss, um auf dem Eis und Schnee bestmöglichst getarnt zu sein.

George Johnston war in allen Belangen ein bemerkenswerter und innovativer Mann. So erstaunt es nicht weiter, dass er auch derjenige war, der den ersten Laden in Teslin eröffnete. Teslin bedeutet in der Sprache der Tlingit «langes, schmales Wasser». Der Teslin Lake ist nämlich 125 km lang und nur etwas mehr als 3 km breit.

 

Erste Begegnung − Nachdem Doug am Abend von Whitehorse zurückkehrt ist, wo er Schüler abgeholt hat, die während der Woche in der Hauptstadt des Yukons studieren, packen wir das Kanu auf’s Auto und fahren los. Wir geniessen die Fahrt mit Doug sehr. Er erzählt uns viel Spannendes über das jagen und Kanu fahren. An einem Aussichtspunkt halten wir an und erhaschen einen ersten Blick auf den Fluss, den wir ab morgen befahren werden. Ein Regenbogen spannt sich über den Nisutlin und eine Uferseite leuchtet golden im sanften Licht der untergehenden Sonne. Wir erleben ein tiefes Glücksgefühl. Für einen Moment sind unsere Sorgen und Bedenken total in den Hintergrund gerückt.

 

Auf dem Fluss − Beim Einstieg, wo morgen unsere Tour beginnt, schlagen wir das Zelt auf. Doug wird ebenfalls hier übernachten. Er will uns Morgen noch ein paar Tricks zeigen, wie wir das Kanu auf dem Fluss auf Kurs halten können. Bevor wir uns in unsere Zelte verkriechen, stehen wir noch eine Weile um ein Lagerfeuer und reden. Von Doug könnten wir echt noch eine Menge lernen. 

Das Training am nächsten Morgen fällt buchstäblich ins Wasser. Es regnet und der Fluss fliesst so schnell, dass wir aufpassen müssen nicht zu weit davongetragen zu werden. Doug versucht es zuerst mit Lulu und danach mit Markus im Boot, den Fluss zu kreuzen, muss aber beide Versuche abbrechen. Er hat echte Bedenken, ob wir mit unserer geringen, und bis jetzt auf Seen beschränkten Paddelerfahrung, für den Nisutlin im momentanen Zustand gewappnet sind. Nur ungern entlässt er uns schliesslich auf den Fluss. Von jetzt an sind wir für die nächsten 4-5 Tage auf uns alleine gestellt. Kein Wunder spüren auch wir eine gewisse Unsicherheit. Während den ersten Paddelstössen erleben wir ein befreiendes und beängstigendes Gefühl zugleich.

Bald legt sich die erste Aufregung. Vorausgesetzt, dass wir keinen Schiffbruch erleiden oder sonstigen Zwischenfall erleben, werden wir die Strecke sicher meistern können. Trotz Regen paddeln wir also zuversichtlich drauflos. Am meisten Mühe bekunden wir schon bald mit der ungewohnten Sitzposition. Knie und Rücken bekommen die zusammengequetsche Haltung besonders zu spüren. Bereits nach eineinhalb Stunden erreichen wir die Biegung, wo wir gestern Abend auf den Fluss geschaut haben. Von der schönen Stimmung ist nichts mehr übrig. Alles ist grau in grau. Wir sind ein wenig verwirrt, weil Doug gemeint hat, dass wir diesen Punkt nach etwa zwei bis drei Stunden erreichen werden. Nun, wir nehmen an, dass er für uns Anfänger wohl etwas extra Zeit eingerechnet. Wir wissen nicht, dass Doug oben auf der Klippe steht und unserem Kurvenmanöver zusieht. Er seinerseits hält sich zurück, uns zuzurufen, da er unser zweisames Naturerlebnis nicht stören will. Immerhin dürfte es ihn beruhigt haben, dass wir es bis hierhin geschafft haben.

Das Wetter wird immer schlechter. Zum starken Regen gesellt sich nun noch der Wind und wir sind trotz Regenjacke und Hosen bis auf die Haut durchnässt und an Händen und Füssen durchgefroren. Wir beschliessen daher um etwa drei Uhr an Land zu gehen, das Zelt aufzustellen und ein Feuer zu entfachen.

 

Ungemütliches Camp − Der Wasserstand scheint kürzlich noch höher gewesen zu sein, denn der Boden ist ein einziger Morast. Das hat den einzigen Vorteil, dass man Unebenheiten beim Schlafplatz relativ leicht «ausbügeln» kann. Zuerst heisst es allerdings ein Feuer zu entfachen. Mit nassem Holz ein schwieriges Unterfangen. Zum Glück hat uns Doug auch hierfür einen Tipp mit auf den Weg gegeben. Wir verwenden also Äste und Rinde mit viel Harz und tatsächlich... «schon» lodert unter der zum Schutz vor dem Regen aufgehängten Plache ein wärmendes Feuer. Wir kochen Wasser für einen heissen Tee und wärmen eine Büchse Ragout. Das tut echt gut!

In der Zwischenzeit sind unsere Kleider über dem Feuer ein wenig angetrocknet. Aber just in jenem Moment als wir die Sachen ins Zelt zügeln wollen, fängt es noch einmal heftig an zu regnen. Sofort ist wieder alles feucht und unsere Stimmung damit im Keller. Vor allem Lulu erleidet ein Krise und muss von Markus mit den Worten «Du wolltest ein Wildnis-Abenteuer, da musst du jetzt durch» getröstet werden. Trotz Kälte und Nässe schlafen wir fast 12 Stunden durch.

 

Ein neuer Tag − Am Morgen kostet es uns einiges an Überwindung, um in die nassen Hosen, Socken und Schuhe zu schlüpfen. Unsere Stimmung hebt sich aber sofort, dass draussen die Sonne durch den Nebel drückt. Das Müsli zum Frühstück gibt uns zusätzlich Energie. Im Nu haben wir unsere Siebensachen zusammengepackt und im Kanu verladen. Nun müssen wir es trotz starker Strömung nur noch schaffen, das Kanu ins Wasser zu schieben und beide rechtzeitig und trocken an Board zu kommen. Alles läuft rund und wir paddeln freudig der Sonne entgegen.

Schon bald ziehen wir unsere Socken und Schuhe aus und lassen sie an der Sonne trocknen. Auch unseren Füssen tun die wärmenden Strahlen gut... welch ein Unterschied zum trüben Tag gestern. Die Welt ist wieder in Ordnung. Oft lehnen wir uns zurück und lassen treiben. Dabei lauschen wir den Geräuschen der Natur. Unser sanft dahingleitendes Kanu scheucht Gänse, Schwäne und Enten auf. Mit lautem Geschnatter fliegen sie in geordnenten Formationen davon. Ein Adler schraubt sich mit kräftigem Flügelschlägen hoch in den Himmel. Genauso haben wir uns das Kanu-Abenteuer vorgestellt. Nur der Elch fehlt :-) Vielleicht kommen die Elche bei hohem Wasserstand gar nicht bis ans Ufer. Das Wasser dringt nämlich an vielen Stellen ein Stück weit in den Wald hinein. Die Bäume und Sträucher am Ufer stehen alle unter Wasser.

 

Auf der Zielgeraden − Mit Hilfe einer Karte versuchen wir ausfindig zu machen, wo wir sind. Da der Fluss sich ständig dreht und wendet, ist dies aber fast nicht möglich. Der einzige Anhaltspunkt sind die Bergketten. Doug hat uns angegeben, dass man etwa fünf bis sechs Stunden pro Tag paddeln muss, damit man die 140 km bis nach Teslin in vier bis fünf Tagen schafft. Weil es so gemütlich ist und das Wetter super toll mitspielt, bleiben wir heute länger auf dem Fluss. Schliesslich haben wir ja noch einen kleinen Nachholbedarf des Vortages. Langsam treiben wir auf dem Nisutlin dahin, plaudern, lachen und machen zwischendurch ein paar Paddelschläge. Als wir nach einer weiteren Kurve ein Seil über dem Fluss hängen sehen, sind wir ziemlich verduzt. Im Nisutlin-Führer haben wir gelesen, dass sich dieses Seil 9 km vor der Einmündung des Wolfs River in den Nisutlin befindet. Dort besteht zudem die letzte Möglichkeit zu campen, denn danach geht es ins Delta und weiter in den Teslin Lake. Wir schauen uns fragend an. Es kann doch nicht sein, dass wir schon so weit sind, dass das Abenteuer schon bald vorüber ist?! Es besteht allerdings kein Zweifel, wir sind nur noch ein paar Kilometer vom Ziel entfernt. Kurz vor dem Wolfs River entdecken wir auf der Snake Island ein vorhandenes Camp und gehen an Land. Es hat eine kleine Cabin, eine Feuerstelle und sogar ein kleines Outhouse (Plumpsklo). Luxus pur... wenn da nur eins nicht wäre... Moskitos! In Schwärmen fallen sie über uns her und saugen uns das Blut aus den Adern. Zum Glück haben wir unsere Moskito-Kopfnetze mitgenommen. Das sieht zwar ziemlich doof aus und erinnert an ein Seuchengebiet, hilft aber die Biester ein wenig auf Distanz zu halten. Sogar Lulu, die zu Hause Mücken und Fliegen vor dem «Erschlagenwerden» schützt, wird hier zur Killerin. Und das sagt doch einiges aus, oder?!

Wir machen Feuer, schlagen das Zelt auf und kochen Fertigteigwaren an einer Sauce mit chicken flavour. Eigentlich schmecken diese ganz akzeptabel aber die Mücken plagen uns so sehr, dass wir einfach möglichst schnell das Essen runterschlingen. Danach geht’s schleunigst ab ins Zelt. Das Gesurr der Mücken, die erfolglos versuchen, durch das Moskitonetz in unseren Schlafbereich vorzudringen, begleiten uns in den Schlaf.

 

Endspurt − Am nächsten Morgen, als wir um sechs Uhr aufstehen, ist das Vorzelt schwarz vor lauter Mücken. Wir verzichten bei dieser Gesellschaft gänzlich aufs Frühstück und versuchen möglichst schnell das Zelt abzubauen und unser Gepäck in die Drybags zu verstauen. So sind wir bereits vor sieben Uhr wieder auf dem Fluss unterwegs. Man hat uns empfohlen, die letzte Etappe möglichst früh anzugehen, da sie am Schluss 12 km über den See führt und dort gegen Mittag der Wind zum Problem werden kann.

Wir passieren die Stelle wo der Wolfs in den Nisutlin River mündet. Ohne nennenswerte Probleme überstehen wir auch diese etwas unruhige Passage trocken. Nach einer Weile wird der Fluss immer breiter und verästelt sich. Wir sind ganz offensichtlich im Delta angelangt. Wie uns geraten wurde, halten wir uns immer an das Ufer ganz rechts und landen so schliesslich im See. Hier warten nochmals ein paar anstrengende Kilometer auf uns. Ohne Hilfe der Strömung sind wir nun zum Paddeln gezwungen. Mit vereinten Kräften kämpfen wir gegen die Wellen an und sind froh, dass es wenigstens relativ windstill ist. Endlich sehen wir die Brücke, die längste am Alaska Highway... jene Brücke die über den Teslin Lake nach Teslin führt.

 

Rekord − Um zehn Uhr docken wir beim Campround an. Wir haben’s geschafft! Wie werden wohl Doug und seine Familie aus der Wäsche gucken, wenn sie uns sehen? Eigentlich werden wir ja erst in zwei, drei Tagen erwartet. Uns ist es ein wenig peinlich. Man könnte ja meinen, dass wir den Fluss nur runtergehezt sind. Dabei nahmen wir es zumindest am zweiten Tag so gemütlich. Nie hätten wir geahnt, dass wir schon so weit sind. Die starke Strömung hat uns sicher mächtig unterstützt.

Nachdem wir den gröbsten Schmutz aus dem Kanu gewaschen haben, schleppen wir das Boot in einem letzten Kraftakt hoch zum Haus der Familie Martens.

Als Doug nach Hause kommt, meint er, wir hätten den Trip abgebrochen. Er kann es kaum glauben, dass wir die 140 km auf dem Fluss in nur 19 Paddelstunden geschafft haben. Das ist neuer Streckenrekord. Bis jetzt lag dieser bei 27 Stunden. Was für eine neue Bestmarke?! :-)

Die Familie lädt uns zum Mittagessen ein, damit wir von unserem Abenteuer berichten können. Am Nachmittag gehen wir wieder in der Bibliothek vorbei, um die E-mails abzuchecken. Jetzt können wir unseren Eltern schreiben, welchen Wildnis-Trip wir hinter uns gebracht haben ;-) Im Laden der Trading Post kaufen wir danach ein paar Sachen ein. Hier und im ganzen Dorf (450 Einwohner) hat sich die Neuigkeit von unserem Rekord bereits herumgesprochen. Wir werden ein paar mal ungläubig darauf angesprochen.